Warnowschwimmen 2015

Warnowschwimmen, 25.7.2015


Warnowschwimmen -
vom Eintauchen in die Vergangenheit und dem Auftauchen in Rostock


von Constantin Gröschel, Berlin

 

Es gibt eine Fotografie:
Vor einer windschiefen Gartenpforte, in ärmliche Kittel gekleidet, auf einer krummen Bank, ein altes Paar; mit Mühe in Richtung Kamera gerichtet, schwarzweiß, kurz nach dem Krieg, bei Rostock.


Er, Franz: die schwieligen Hände auf die Knie gestützt, durch kaum durchsichtige Brillengläser nach oben blinzelnd, abgemagert; ein Sinnbild der Verlorenheit und Entwurzelung.


Sie, Marie: die Hände verzagt in die Schürze gelegt, den beschämten Blick gesenkt, verhärmt; ein Sinnbild der Verzweiflung und Aussichtslosigkeit.


Die beiden sind meine Urgroßeltern.
Von Vertreibung, Flucht und Not hierher gespült, weg von Heim und Hof im sudetendeutschen Hügelland, fern von den in alle Richtungen versprengten Söhnen, an der fremden Ostseeküste gestrandet. Und von der kriegsgebeutelten einheimischen Bevölkerung sicherlich nicht mit offenen Armen willkommen geheißen.


Dann gibt es nur noch ein Telegramm:


„Vati verstorben Beisetzung Mittwoch Marie“, aufgegeben in Warnemünde am 20. Mai 1949.
Mein Vater, der Enkelsohn, der immer mit verblüffender Sachlichkeit, Vernunft und Ausgeglichenheit über die traumatischen Erlebnisse der Nachkriegszeit berichtet hatte, wurde an diesem Punkt immer knapp, emotional, verbittert: „Mein Großvater ist verhungert!“.
Auf dem Friedhof (die Beisetzung fand in Lichtenhagen statt, wie ich nun herausfand wohl im „Flüchtlingsblock C“, ohne Grabstelle, ein Armenbegräbnis) ist er nie gewesen. Der wunde Punkt ist nie verheilt.


Jahrzehnte später, in einem anderen Zeitalter, habe ich versucht, dies – auch für meinen Vater – nachzuholen: mit einer Kerze auf dem Friedhof, einer stillen Stunde mit meiner Lebensgefährtin bei der Grabstelle. Und: mit dem Warnowschwimmen!
Tags darauf schwamm ich erstmals für Franz und Marie.
Was für eine Freude es für sie sein muss, dass heute ein Urenkel nach Rostock zurückkehrt, wohlgenährt, erhobenen Hauptes, gesund, um an so einem schönen Wettbewerb teilzunehmen.
Wie anders ich Rostock heute erleben kann! Mich willkommen fühlen kann in der schönen Stadt an der Küste, die mir in den letzten Jahren schon eine wunderbare berufliche Weiterbildung ermöglicht hat.


Beim Schwimmen sehe ich die beiden unter den Zuschauern auf den Stufen im Stadthafen.
Schon beim Getümmel des Startes mache ich mir bewusst: es ist heute Platz für jeden! Ich genieße es, mich mit und neben den anderen zu arrangieren, miteinander statt gegeneinander zu schwimmen.


Den ersten Streckenabschnitt widme ich diesem Miteinander.


Die zweite Teilstrecke schwimme ich für Marie: ich schwimme für ihre Zähigkeit, ihr Durchhaltevermögen, ihre Fürsorge für den wohl noch mehr gebrochenen Ehemann. Die Kraft, die sie auch in Hoffnungslosigkeit durchhalten ließ, ehe sie, allein übrig geblieben und bei einem ihrer Söhne untergekommen, in ihren letzten Jahren zunehmend in geistiger Verwirrung versank.


Den langen Weg zur nächsten Boje lege ich für Franz zurück. Zug um Zug, so wie er wohl auch nach der Vertreibung nur mehr Schritt um Schritt gehen konnte, ohne Perspektive, ohne Ziel. Aber ich danke ihm auch für seine Kraft, für den Witz und die Lebensfreude, die er auf den wenigen Bildern der Vorkriegszeit ausstrahlt, bevor er nur noch ein Schatten seiner selbst geworden war.


Es folgt ein Abschnitt für meinen Vater, den ich hoffe teilhaben zu lassen an meiner Versöhnung mit den Schicksalsschlägen, dem ich – wie meiner Mutter auch – dankbar bin für seinen Umgang mit den Wechselfällen, aus denen das Leben besteht.


Der Zieleinlauf, das Ankommen schließlich ist den Menschen in Rostock und dem Umland gewidmet sowie den Flüchtlingen der heutigen Zeit.


Vielleicht waren meine Urgroßeltern hier nur eine nutzlose, unwillkommene Last, alt und nicht mehr arbeitsfähig. Dennoch wird es auch Augenblicke der Menschlichkeit, der Großzügigkeit, des Mitleids gegeben haben. Immerhin fanden sie hier für vier Jahre Unterkunft und notdürftige Nahrung.
Gerne würde ich wissen, ob sie trotz aller Widrigkeiten auch einmal am Strand standen und die Schönheit des Meeres bewundern konnten, das sie noch nie zuvor gesehen hatten?


Die Zeiten wandeln sich, wo mir die Not heute fern scheint, ist sie für andere Menschen ganz akut.
So wie ich heil und sicher an Land geklettert bin und mit freundlichen Glückwünschen begrüßt wurde, so wünsche ich allen Menschen eine herzliche Aufnahme im Hafen – in Rostock und anderswo.